Foto: Monica Nedin – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, 69440233
Interview mit Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPhV).
Am Gymnasium findet traditionell Studienorientierung statt – keine Berufsorientierung.
Muss sich das nicht ändern, wenn 30 % der Studierenden das Studium abbrechen, 25 % der Ausbildungsanfänger/innen eine Hochschulzugangsberechtigung haben und 40 % der Kinder nach der Grundschule auf ein Gymnasium wechseln?
Wir haben die Bundesvorsitzende der Gymnasiallehrkräfte, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, befragt!
Frau Professorin Lin-Klitzing, was wollten Sie als Kind einmal werden?
„Seit ich dreizehn Jahre alt bin, wollte ich Lehrerin werden.“
Was war auf Ihrem Weg in den Beruf entscheidend – eine Erfahrung, eine Person, ein Zufall?
„Das waren Schulerfahrungen und vor allem eine Person:
Zum einen war die Schule, besser der Unterricht für mich eine ausgesprochen positive Erfahrung. Ich habe dort von Inhalten Kenntnis bekommen, die sich mir durch mein Elternhaus nicht erschlossen haben. Ich habe die im Unterricht vermittelten Inhalte quasi „aufgesogen“.
Zum anderen hat mich in der Gymnasialen Oberstufe meine Deutsch-Leistungskurslehrerin, Frau Dr. Wartenberg, geprägt. Sie lebte ihre Fächer Deutsch und Geschichte, sie war ein sprudelnder Quell von Wissen. Sie verkörperte ein hohes Anspruchsniveau in ihren eigenen Lehrervorträgen, in den Gruppenaufgaben, die sie uns Schülerinnen und Schülern gab, und auch in der sorgfältigen Rückmeldung von Hausaufgaben und Klausuren. Es gab sehr klare, wenn auch nicht immer angenehme Rückmeldungen zu unseren Leistungen, verbunden mit menschlicher Wärme. Vorbildhaft für mich.“
Sie sind Vorsitzende des deutschen Philologenverbandes, also der Gymnasiallehrerinnen und -lehrer in Deutschland. Sie sagen, Aufgabe des Gymnasiums sei vor allem die „allgemeine Studierfähigkeit“. Was ist damit genau gemeint?
„Das Gymnasium als ein durchgängiger Bildungsgang ist geprägt von den durch die Kultusministerkonferenz verabschiedeten Zielen der Gymnasialen Oberstufe: vertiefte Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und allgemeine Studierfähigkeit. Das sind auch nach Auffassung des Deutschen Philologenverbands die inhaltlichen Leitlinien des Gymnasiums. Die Bedeutung der Studierfähigkeit ist gesellschaftlich eng mit den jeweiligen Auffassungen von gymnasialer Bildung verknüpft: Absolventinnen und Absolventen des Gymnasiums sollen in der Lage sein, an einer Hochschule mit Erfolg zu studieren. Gesellschaftlich ist jedoch eine Entwicklung festzustellen, die das Abitur nicht nur als Zugangsberechtigung für ein Hochschulstudium versteht, sondern vor allem als „multiples Eingangszertifikat“ für alle möglichen Berufswege.“
Heute gehen 40% der Kinder nach der Grundschule auf ein Gymnasium. Diese Schülerinnen und Schüler werden anschließend nicht alle studieren. Muss das Gymnasium nicht auch auf die berufliche Bildung vorbereiten?
„Die Übergangsquote an das Gymnasium ist von 2006 bis 2016 von durchschnittlich 30 auf 41 Prozent angestiegen, in manchen Städten erreicht sie knapp 60 Prozent. Es gibt in den meisten Ländern keine verbindliche Übergangsempfehlung mehr. Das Abitur, möglich als Abschluss an verschiedenen Schularten, nicht nur Gymnasium, wurde 2006 von 34, 2016 von 43 Prozent erworben, ein Studium wird aktuell von über 55 Prozent der jungen Menschen aufgenommen. Allerdings brechen mehr als 1/3 bereits vor dem Erreichen eines Abschlusses ihr Studium ab.
Die nicht am Gymnasium erworbenen Hochschulzugangsberechtigungen ermöglichen genauso die direkte Aufnahme eines Hochschulstudiums wie das an einem Gymnasium erworbene Abitur, allerdings stammt der prozentual größte Anteil der Studienabbrecherinnen und -abbrecher aus der Gruppe der nicht-gymnasialen Hochschulzugangsberechtigten. Aus meiner Sicht ist hier in allererster Linie eine frühere, konsequente und leistungsorientierte bildungspolitische Steuerung der Studien- und Berufsbedarfe auf der Basis einer Gleichwertigkeit, aber nicht Gleichartigkeit der beruflichen und allgemeinen Bildung nötig, die Hand in Hand mit einer Aufwertung der beruflichen Bildung geht.
Dazu gehört ein frühzeitiges und professionelles Informationsangebot über Schul- und spätere Berufsmöglichkeiten für die Eltern, die über die Beschulungs- und Berufswege ihrer Kinder (mit-) entscheiden. Dazu gehört auch die Wiedereinführung einer differenzierten Leistungsbewertung mit der Berücksichtigung des Lehrerurteils beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schularten. Grundsätzlich trete ich für ein differenziertes Schulsystem mit einem anspruchsvollen Abitur, einem aussagekräftigen und nachgefragten mittleren Bildungsabschluss und eine Stärkung der beruflichen Bildung ein – konsequenterweise auch auf der Basis einer veränderten, auch materiellen Bewertung von akademischen und nicht-akademischen Berufen, von Ausbildung und Studium.
Ja, und in der Tat gehört zu den Aufgaben des Gymnasiums laut KMK-Beschluss von 1997 ausgewiesenermaßen die Berufsorientierung neben die Vermittlung von vertiefter Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und Studierfähigkeit.“
Wir haben den Eindruck, dass sich viele Gymnasien schwer damit tun, auch auf den Beruf vorzubereiten. Wie kann man es ihnen leichter machen?
„Jede/r soll das tun, was er kann: Gymnasiallehrkräfte sind keine Experten für Berufsvorbereitung und müssen es aus meiner Sicht auch nicht werden, eine schulartspezifische Studien- und Berufsorientierung gehört aber dazu:
Zum einen liegen Ausbildungsreife und Hochschulreife insofern nicht weit auseinander, als Kriterien für die Aufnahme einer Berufsausbildung nach dem Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs solche sind, die von einem Gymnasium mit dem Ziel der Hochschulreife bereits umfasst werden: schulische Basiskenntnisse (z.B. sicheres Lesen und Schreiben), psychologische Leistungsmerkmale (z.B. logisches Denken), physische Merkmale (z.B. altersgerechter Entwicklungsstand) und Berufswahlreife, unter der Selbsteinschätzungs- und Informationskompetenz verstanden wird. Diese Kriterien der Ausbildungsreife gehören auch zur Hochschulreife, werden also von ihr umfasst. Dies gilt allerdings nicht umgekehrt: Die Ausbildungsreife umfasst nicht die Hochschulreife.
Zum anderen geht es im Rahmen einer guten Studien- und Berufsorientierung um gemeinsame Konzepte von Schulen und ihren Kooperationspartnern, sowohl den Universitäten als auch den Betrieben. Wir haben uns gerade auf der letzten Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Philologenverbands mit dem Thema Studien- und Berufsorientierung am Gymnasium beschäftigt. Eingeladene Experten hoben die Berufswahl als Lebensaufgabe hervor. Aus ihrer Sicht sei es aber nicht förderlich, wenn Lehrerinnen und Lehrer diese Aufgabe als Additum wahrnehmen. Sie sollten u.a. auf professionelle Angebote, wie z.B. die Potentialanalyse und die Berufsberatung von einschlägigen Partnern zurückgreifen. Hier geht es also um vernünftige Konzepte, die von verschiedenen Kooperationspartnern getragen werden. Der ehemalige Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Prof. Dr. Olbertz, führte dazu aus, dass wir uns von der Vorstellung trennen sollten, Wissenschaft und Beruf hätten nichts miteinander zu tun. Natürlich haben sie das und dementsprechend sollte das Gymnasium tatsächlich Berufe in den Fokus nehmen – und zwar Berufe, in denen Wissenschaft ausgeübt wird!
Wenn Sie mich fragen, was einer guten Studien- und Berufsorientierung dient, dann spreche ich mich für gute Kooperationskonzepte zwischen schulischen und außerschulischen Partnern aus, in denen jeder genau das tut und vermittelt, was er am besten kann.“
Eine ganze Reihe von Gymnasien trägt bereits das Berufswahl-SIEGEL, unser Zertifikat für Schulen mit herausragender Beruflicher Orientierung. Würden Sie das SIEGEL Ihren Kolleginnen und Kollegen weiter empfehlen?
„Ja, auf jeden Fall – und das mit vielen guten Gründen! Einer davon ist, dass mein Stellvertreter im Deutschen Philologenverband Schulleiter eines großen Gymnasiums in Augsburg ist und erfreulicherweise mit seiner Schule im letzten Jahr das Berufswahl-SIEGEL erhielt!“